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» Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Glück zum Neuen Jahr. Ich habe Ihnen gar nicht zu dem Erfolg von „Einsame Menschen“ gratuliert, mir schwebt immer noch vor, daß ich „Einsame Menschen“ auf der Bühne sehen werde und Ihnen von Herzen und richtig gratulieren kann. Ich habe Meyerhold geschrieben und ihn in meinem Brief versucht davon zu überzeugen nicht übertrieben zu sein in der Darstellung eines nervösen Menschen. Ein sehr großer Teil der Menschen ist nervös, ein großer Teil leidet, ein kleiner Teil empfindet Schmerz, aber wo – auf der Straße und in den Häusern – sehen Sie Menschen, die hin und her rasen, herumspringen und sich ständig an den Kopf fassen? Leiden muß man so darstellen, wie es sich im Leben darstellt, d. h. nicht mit Händen und Füßen, sondern im Ton, im Blick, nicht mit Gestikulieren, sondern mit Grazie. Die zarten Seelenregungen, die charakteristisch sind für intelligente Menschen muß man auch im äußeren Verhalten zart ausdrücken. Sie werden sagen: Die Bedingungen der Bühne. Keine Bedingung gestattet eine Lüge.
Meine Schwester sagt, daß Sie die Anna wunderbar gespielt haben. Ach, wenn doch das Künstlertheater nach Jalta käme.
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Anton an Olga, 2. Jänner 1900, Jalta
Brief von Anton Cechov an Olga Knipper